Wer sich selbst schon einmal in einem Videofilm gesehen hat, kennt es vermutlich: Aus der Perspektive eines Dritten sieht der eigene Körper auf einmal anders aus. Diese Aussenansicht haben Forscher um Solène Neyret von der Universität Barcelona ihren Probanden ermöglicht und gingen dabei noch einen Schritt weiter. Sie liessen elf männliche und zwölf weibliche Studenten in einer virtuellen Realität (VR) sich selbst begegnen, besser gesagt drei verschiedenen Versionen ihrer selbst. Hierzu sollten die Teilnehmer die eigenen Körpermasse abschätzen, aber auch angeben, wie ihr Körper im Idealfall aussehen sollte. Die Forscher kreierten daraufhin für jeden der Probanden drei Avatare: einen anhand der Selbsteinschätzung des eigenen Körpers, einen anhand der Idealvorstellung sowie einen, der den tatsächlichen Massen der betreffenden Person entsprach. Anschliessend liessen sie die Teilnehmer mittels VR-Brille die drei Avatare entweder aus der ICH-Perspektive oder aus der Perspektive eines Dritten betrachten.
Neyret und ihre Kollegen fanden heraus, dass Frauen ihren Körper stets fülliger einschätzten, als er in Wirklichkeit war. Zudem bewerteten sie das Abbild ihres realen Körpers attraktiver, wenn sie ihn aus der Perspektive eines Aussenstehenden sahen. Die Forscher vermuten, dass diese Aussenansicht es ermöglicht, den eigenen Körper losgelöst von internen Repräsentationen und negativen Vorannahmen zu betrachten. Bei Männern wirkte sich die Perspektive nicht auf die Selbstwahrnehmung aus. Das Experiment hatte einen heilsamen Nebeneffekt: Die Studentinnen gaben hinterher an, zufriedener mit ihrem Körper zu sein. Laut den Wissenschaftlern demonstriert diese Methode nicht nur, wie inakkurat unsere Selbstwahrnehmung ist, sie könnte auch als effektives Mittel in der Therapie von Essstörungen eingesetzt werden.
Auszug aus dem Magazin «Gehirn&Geist» 06/2020